2/1 Gedanken zu meiner Lesesozialisation

Das Skriptum zur Lesesozialisation war sehr informativ für mich und hat mir Prozesse aufgezeigt, über die ich so noch kaum nachgedacht und die ich selbst zum Teil anders erfahren habe. Vieles war neu, anderes gut bekannt. Die wichtige Rolle, die das Umfeld, in dem ein Kind heranwächst, für die weitere Entwicklung des Kindes spielt, ist auch aus anderen Bereichen als der Lesesozialisation bekannt. Von hier aus gesehen, war es für mich auch immer selbstverständlich, dass ich eine Vielleserin bin. Mein Aufwachsen war von Büchern geprägt, meine Bezugspersonen darum bemüht, mein Lesen zu unterstützen und zu fördern. Es ist mir wichtig, es jetzt meinem (noch nicht selbst lesenden) Kind genauso zu gestalten. Seine Leselust ist jetzt sehr präsent. Ich bin schon gespannt, wie sie vom Schuleintritt beeinflusst werden wird. An mein eigenes Lesenlernen erinnere ich mich kaum. Sollte es einen Leseknick gegeben haben, dann war er schnell überwunden und aus der Viellesephase bin ich nicht mehr aufgetaucht. Die Lesepubertät ist definitiv an mir vorbeigegangen. Aus meiner Blase heraus, war mir nicht bewusst, dass die Lesebiographie eines Kindes „permanent prekär“ ist. Nach Lesen des Skriptums sehe ich den Hintergrund dieser Annahme und finde sie durchaus plausibel und gleichzeitig beunruhigend.

Insofern finde ich auch andere Wege, zum Lesen zu finden und dabei zu bleiben, sehr spannend. Während die Verantwortung dafür vielfach den Schulen zugewiesen wird, können diese, denke ich, nur eingeschränkt erfolgreich sein, wenn das sonstige Umfeld keinen fördernden Beitrag dazu leistet. In diesem Sinne bewundere ich diejenigen Kinder, die trotz allem zum Lesen finden, so wie Roald Dahls Matilda oder Maeve Wiley aus der Netflix-Serie Sex Education, die in ihrer Haltung Holden Caulfield ähnelt. Anders als er, kommt sie allerdings aus einer sozial schwachen, bildungsfernen Familie und schreibt in der Schule gute Noten, lässt sich aber nicht von Erwartungen an sie vereinnahmen. Ihr Außenseitertum, verbunden mit ihrem Lesen steht für „Persönlichkeit, literarischen Eigensinn und Revolte“, wie Holden Caulfields Einstellung zum Lesen im Skriptum beschrieben wird. Von den anderen, wird Maeve als belesen wahrgenommen, gleichzeitig verbirgt sie ihren familiären Hintergrund, der so gar nicht mit ihrem intellektuellen Auftreten in der Schule zusammenpasst. 

In der Serie spielt besonders die Pflichtlektüre in der Schule eine Rolle, andere Lesemodi werden nur angedeutet. Für mich war lange vor allem der intime Lesemodus zentral. In der Schule gab es natürlich Pflichtlektüre, die Beschäftigung damit habe ich weniger als Lesen denn als Arbeit angesehen. „Wirklich“ gelesen habe ich dann zu Hause. Das hat sich im Laufe der Zeit dahin verändert, dass ich jetzt viel bewusster „instrumentell lese“ und auch Pflichtlektüre als wertvolle Erfahrung ansehen kann. Um mein Lesen mit den Lesemodi nach Werner Graf zu beschreiben, würde ich sagen, dass ich vorwiegend Gefühlsleserin mit Tendenz zu ästhetischem Lesen bin und intensiv, aber nicht konzeptuell instrumentell, lese – all das mit einem partizipativen Anspruch.