4/2 Phantastische Kinderliteratur | -> Nussknacker und Mausekönig
Das Kunstmärchen „Nussknacker und Mausekönig“, das E.T.A. Hoffmann 1816 veröffentlichte, gilt als ein Ausgangspunkt der phantastischen Literatur für Kinder und Jugendliche und gibt gleichzeitig viele Aspekte und Motive, die im Skriptum zur phantastischen Literatur erläutert werden, wieder. Es handelt sich dabei um ein Beispiel der phantastischen Kinderliteratur im engeren Sinne, das von dem Modell der offenen sekundären Welten nach Maria Nikolajeva ausgeht. Die phantastische Kinderliteratur im engeren Sinne und das Modell der offenen sekundären Welten zeichnen sich durch ein Aufeinandertreffen einer primären (alltäglich-realistischen) und einer sekundären (phantastischen) Welt aus. Darin unterscheidet sie sich unter anderem von Fantasy, das von vornherein nur in einer sekundären Welt angesiedelt ist und wo keine Konfrontation durch phantastische Elemente auftritt, da sie ohnehin dominant sind. In diesem Sinne wird Fantasy eindimensional erzählt, so wie auch viele Märchen, in denen von der bekannten Realität Abweichendes als normal angenommen wird. Von Zweidimensionalität wird hingegen dann gesprochen, wenn das Phantastische nicht ohne Weiteres ins Alltägliche integriert wird. Dieses Moment der Konfrontation und der anschließenden Reaktion ist zentral für die phantastische Kinderliteratur im engeren Sinn. Die Reaktion tritt oftmals in Form von Erklärungsstrategien, die das Eintreten des Phantastischen aufklären sollen, auf (z.B. Traum). In „Nussknacker und Mausekönig“ bleibt es diesbezüglich bei einer gewissen Unschlüssigkeit, die in der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur eher selten, für manche Definitionen der phantastischen Literatur im Allgemeinen aber ausschlaggebend ist. Zumindest einer der Figuren bzw. der Leser_in bleibt ein Zweifel über die Bedeutung und Erklärung der übernatürlichen Ereignisse. So können sie auch in E.T.A. Hoffmans Kunstmärchen sowohl realistisch als auch phantastisch erklärt werden.
Zu Weihnachten bekommen die kindliche Protagonistin Marie und ihr Bruder Fritz vom Paten Droßelmeier immer besonders schöne, mechanische Spielzeuge, die dann in einer Glasvitrine mit all ihren Schätzen aufbewahrt werden. In diesem Jahr bekommen sie ein Schloss mit Garten, in dem allerhand Figuren umhergehen und tanzen. Die immer gleichen Bewegungen langweilen die Kinder schnell, doch Marie nimmt sich einem Nussknacker an, der auch auf dem Weihnachtstisch gelegen hatte. Sie spielt noch bis alle anderen schon schlafen gegangen sind mit ihm und erlebt so zu Mitternacht mit, wie das ganze Spielzeug zu Leben erwacht und außerdem ein Mausekönig auftaucht, der im Krieg gegen den Nussknacker auftritt. Als sie ins Geschehen eingreifen will, spürt sie einen starken Schmerz und fällt ihn Ohnmacht. Am nächsten Tag erwacht sie verletzt aus einem tiefen Schlaf. Die Eltern meinen, sie hätte sich beim Spielen am Glasschrank verletzt.
Bis hierhin könnte man das in der Nacht Erlebte als Fiebertraum Maries erklären. So will es Marie aber nicht sehen. Der Pate Droßelmeier nimmt ihre Berichte ernst und gibt ihnen durch seine Geschichten Rahmen und Fortsetzung (oder Impulse für Maries Fantasie). So bekommt sie auch Hinweise, wie sie den Nussknacker retten kann. Dazu muss sie zum Beispiel dem Mausekönig ihre Zuckerwaren und Spielzeuge opfern, was sie bedauernd doch voller Hingabe und Liebe für den Nussknacker tut. Ihre Gaben zeigen am Morgen tatsächlich Spuren die nicht nur Marie, sondern auch die anderen Familienmitglieder sehen, wodurch das Phantastische offensichtlich ins Realistische eintritt. Von den Erwachsenen werden dafür plausible Erklärungen gefunden. Für Marie bleibt die sekundäre Welt jedoch in den Erzählungen des Paten Droßelmeier und ihrem Kopf bestehen. Bis sie erneut mit ihr in direkte Berührung kommt und mit dem zum Leben erweckten Nussknacker durch den Kleiderschrank in sein Reich, das dem Weihnachtsgeschenk des Paten Droßelmeier entspricht, eintritt. Auch dieses Erlebnis endet im Erwachen. Wo Marie noch immer überzeugt ist, alles tatsächlich erlebt zu haben, finden hier nicht nur die Eltern den Traum als Erklärung, auch der Nussknacker selbst deutet während ihrem gemeinsamen Weg durch den Schlossgarten, als sie das Werk des Paten lobt, an, dass all das nur in Maries Kopf stattfindet: „So etwas kann denn doch wohl der Onkel niemals zu Stande bringen; Sie selbst viel eher, liebe Demoiselle Stahlbaum, doch lassen Sie uns darüber nicht grübeln.“
All die Erlebnisse kann man durch ausgeprägte kindliche Phantasie und Vorstellungsgabe, intensiv erlebtes Spiel und Traum erklären. Einzelne Überschneidungen der sekundären mit der primären Welt machen dabei Platz für eine gewisse bleibende Uneindeutigkeit, die diesen Text so spannend macht.